Der Wecker klingelte schrill in meinen Ohren. Sofort war sie da, jene nervende innere Stimme, die mich morgens pünktlich empfing: „Servus! Derselbe Scheiß wie immer, nur ein anderer Tag. Ein Tag älter, wieder nix geschafft gestern. Heute wird dasselbe sein.“ Ich hatte zu jener Zeit das Gefühl, als hätte mir jemand Watte ins Gehirn gepackt.
Ich konnte nicht mehr klar denken. Wenn es eine Batterie in meinem Körper gab, so musste sie jemand angezapft haben, denn das Energielevel in mir war im roten Bereich. Müde schleppte ich mich täglich ins Badezimmer und vermied es, in den Spiegel zu blicken. Ich wusste sowieso, dass ich den Menschen darin nicht mehr kannte. Dafür malträtierte mich die Stimme in meinem Kopf, während ich Zähne putzte:
„Du bist zu nichts fähig und zu nichts zu gebrauchen!“
„Du Versager! Kein Wunder, dass Du immer wieder auf die Schnauze fällst!“
„Wer glaubst Du eigentlich, wer Du bist? Schuster, bleib bei Deinen Leisten!“
Und so weiter. Ich hätte ein ganzes Buch mit den Sätzen meiner Selbstsabotage füllen können.
Um mich zu bestätigen lauschte ich beim Frühstück den Worten meiner Frau, die dasselbe sagte. Ach, genau. Als Ehepartner hatte ich auch versagt und wenn ich es mir recht überlegte, auch bei meinen Kindern. Zusätzlich verdiente ich zu wenig Geld und war zu fett. Generell unattraktiv.
Das verrückte an der Sache war, dass ich keine Ahnung hatte, was ich tun sollte. Ich wusste nicht, wohin mit mir oder wie ich es anders machen konnte. Ich landete immer wieder im selben Schlamassel.
Das Meer führt zu uns selbst
Kurzerhand buchte ich eines Tages einen Flug ans Meer. Ich musste hier weg. Ich konnte nicht mehr atmen und fühlte mich wie in einem Gefängnis. Meine Frau hielt mich für vollkommen übergeschnappt, meine Kinder zeigten mir den Vogel. Selbst der Hund sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun – und ihm glaubte ich am meisten.
Ich lief schon eine ganze Weile am späten Abend den Strand entlang, als ich plötzlich einen Mann vor mir sah, der Treibholz sammelte. Er sah verwahrlost aus, für meine Begriffe. Strubbeliges, schulterlanges Haar, das vermutlich einmal braun gewesen war, bevor es die Sonne zu einem Straßenköterblond gefärbt hatte. Die satt braungebrannte Haut seines Gesichts ließen das Auffälligste an ihm sofort aufblitzen: hellblaue Augen, so klar wie das Wasser, das uns an manchen Stellen hier umgab. Mein erster Gedanke war, ob der Ozean sie wohl so gefärbt hatte?
Als ich näher kam, hielt der Mann inne. Ich war überrascht, wie alt er war. Von weitem hatte es ausgesehen, als sammelte einer der jungen Surfer hier am Riff wahllos ein paar Äste. Doch der Mann hatte tiefe Falten im Gesicht und nun erkannte ich auch die grauen Haare zwischen den strähnig verbrannten Brauntönen.
„Hi! Du hast dich verlaufen, was?“ begrüßte er mich lässig.
„Nein, nein. Ich gehe nur hier am Strand entlang“, entgegnete ich bemüht, genauso lässig zu klingen. Ich scheiterte kläglich.
„Alter, das kannst du deinen Kindern erzählen. Mir nicht. Ich erkenne Leute ohne Kompass“, grinste er mich mit belustigt an.
Ich fühlte mich entblößt. Mir war doch so wichtig, von anderen Menschen als derjenige anerkannt zu werden, der einen Plan und die Dinge im Griff hatte. Und da tauchte dieser schräge Vogel am anderen Ende der Welt auf und sah mit einem Blick, was mit mir los war.
Ich sagte gar nichts daraufhin und er bückte sich, um erneut ein Stück Treibholz aufzunehmen. Da sah ich das riesige Tattoo auf seinem Rücken.
Es war ein Kompass. Doch anstatt der Himmelsrichtungen, waren Worte unter seine Haut geschrieben.
Im Norden las ich Freiheit.
Im Osten sah ich Respekt.
Im Süden erkannte ich Liebe.
Im Westen erblickte ich Klarheit.
Im Norden liegt die Antwort verborgen
„Seltsames Tattoo“, murmelte ich laut.
Der Mann hielt in seiner Bewegung inne und richtete sich langsam auf. Mit schräg gelegtem Kopf musterte er mich einen Moment, ehe er antwortete:
„Weißt du, ich sah einmal aus wie du jetzt. Angezogen wie einer von Millionen, ernährt wie viele andere, ständig in Bewegung und doch kam ich niemals dort an, wo ich hingehörte. Eines Tages stand ich völlig verzweifelt am Rand einer Felsenklippe und dachte darüber nach, ob ich springen sollte. Da tauchte neben mir eine ältere Dame auf. Ich glaube, dass sie wusste, was gerade in mir vorging. Sie ließ es sich nur nicht anmerken. Stattdessen hielt sie mir einen Kompass unter die Nase. Er war offensichtlich uralt, das Metall war angelaufen und längst konnte man durch das milchige Glas nur mit Mühe die Nadel erkennen“.
Er unterbrach seine Geschichte für einen Moment und starrte auf das Meer. Die Sonne war bereits zur Hälfte im Ozean versunken.
„Dann sagte sie etwas, das mein Leben für immer verändert hat:
Junger Mann, sehen Sie mal her. Ein Kompass kann noch so alt und schäbig aussehen, doch das Wichtigste kann er immer. Er weist nach Norden. Immer und überall. Es sei denn, er wird in einer Umgebung von Störquellen benutzt. Dann müssen sie diese Störquellen verlassen oder auflösen. Eines kann ich ihnen sagen: Dort, wo sie gerade lang gehen, ist nicht der Norden. Dort liegt auch nicht Süd, noch West oder Ost. Dort, wo sie gerade langgehen, liegt Feigheit und Bequemlichkeit. Sie stehen am Abgrund, der nirgendwohin führt. Möchten Sie gerne dort bleiben oder darf ich Sie einladen, ein hübscheres Plätzchen aufzusuchen?
Ich konnte nur sprachlos nicken, ihre Worte hatten mich mitten ins Mark getroffen. Wir gingen den Klippenweg hinab, hinunter zum Strand. Dort begann sie, die vier Himmelsrichtungen in den Sand zu zeichnen.
Und nun stellen Sie sich in die Mitte dieses Kompasses. Schließen sie ihre Augen. Welcher Zustand in ihrem Leben ist Ihnen der Allerwichtigste? Was würden Sie um keinen Preis dieser Welt aufgeben?
Halten Sie Ihre Augen geschlossen und lauschen Sie dem Meer. Es wird Ihnen sagen, wonach Sie sich am meisten sehnen und was Sie um keinen Preis dieser Welt aufgeben würden.
Ich tat, was sie sagte. Anfangs kam ich mir schrecklich bescheuert vor. Doch nach einer Weile wurde mein Atem ruhiger und ich sog Luft in meine Lungen, wenn sich eine Welle zurückzog und stieß sie aus, wenn eine Welle an den Strand traf. Minutenlang. Und plötzlich, da wusste ich die Antwort. Es war Freiheit. Ich lebte um meiner Freiheit willen. Sie war es, die ich nicht aufgeben wollte. Sie war es, nach der ich mich sehnte. Doch ich hatte mein Leben lang nicht wirklich frei gelebt. Ich hatte mich Zwängen unterworfen, die mich beinahe zerstört hätten.“
Dann schwieg er. Ich konnte in seinen Augen sehen, wie tief berührt er war und wie nahe ihm diese Geschichte ging. Ich glaubte ihm. Dieser Mensch, so verrückt er aussah, war im Einklang mit sich selbst. Das wollte ich auch. Für mich. Für niemanden sonst, als für mich.
Dorthin, wo der höchste Lebenswert liegt
„Dann sind die vier Himmelsrichtungen auf Deinem Rücken also die Prinzipien, nach denen Du lebst?“ fragte ich ihn.
„Prinzipien? Nein, das klingt mir zu zwanghaft. Es sind einfach meine Werte, nach denen ich lebe. Ich würde um keinen Preis dieser Welt meine Freiheit verraten. Für niemanden. Denn das würde bedeuten, dass ich mich für das Unglück entscheide. Das kenne ich, da will ich niemals mehr hin. Ich habe außerdem erkannt, dass mir Respekt, Liebe und Klarheit so wichtig sind, dass ich nicht eine Sekunde lang auf sie verzichten kann. Ich brauche diese Werte in jedem Atemzug, den ich mache.“
Ich fühlte mich ein wenig schwindelig und hilflos, denn dieser Mann schien etwas begriffen zu haben, das ich dringend ebenfalls für mich wollte. Doch wie ich dorthin kommen sollte, das war mir ein Rätsel.
„Was hältst Du davon, wenn wir jetzt herausfinden, wo Dein Norden liegt?“ Er hatte meine Gedanken erraten.
Ich musste lachen.
„Hm. Da bekommt der Ausdruck „einnorden“ plötzlich Bedeutung für mich.“
Er grinste.
„Ja Kumpel, Du hast es kapiert.“
Dann malte er die vier Himmelsrichtungen in den Sand.
Ich ließ an diesem Abend das Chaos zurück, das sich in mir angesammelt hatte und erhielt stattdessen jene Koordinaten für mein Inneres, die mich fortan leiteten, wenn ich Entscheidungen traf. Meine Werte. Ich habe meinen eigenen Kompass nie unter die Haut tätowiert, aber das war auch gar nicht nötig. Heute spüre ich meine Werte in meinem ganzen Körper. Sie sind ein Teil von mir. Und so, wie es die alte Dame gesagt hat, als sie sich damals von dem Mann am Strand verabschiedet hat, verabschiede ich mich jetzt auch von Dir:
„Dieser Kompass hier, der ist vielleicht hin und wieder für andere von Außen schwer lesbar – doch für Dich ist er richtungsweisend, jeden Tag. Lerne, ihn zu gebrauchen. Du verläufst dich so nie wieder in deinem Leben und wenn du es doch einmal tust, dann findest du erneut zurück nach Norden. Dorthin, wo dein allerhöchster Lebenswert liegt.“
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