„Sicher, dass wir da lang fahren sollen?“ frage ich Jörn, als wir vor einem überfluteten Straßenabschnitt im Okavango Delta stehen.
„Ja, guck mal. Da führen Reifenspuren entlang“, meint Jörn und ich wir fahren zielgerichtet durch das sumpfige Nass. Kurz bleiben wir stecken, bekommen beide schon Herzrasen weil die Reifen durchdrehen, aber dann tuckert unser braves Gefährt doch noch auf die andere Seite. Wenige Meter geht es auf trockener Erde weiter, bis das nächste Hindernis auftaucht. Diesmal so richtig tiefes Wasser. Jörn testet das Gebiet – und befindet die Stelle für unbefahrbar.

Keine große Pfütze, sondern ein Ausläufer des Okavango

„Ich frage mich bloß, wie wir dann zu unserem Camp kommen wollen? Hast du irgendwo eine Umleitung gesehen?“ frage ich und scrolle durch das Display unseres GPS-Geräts. Im Camp anrufen geht nicht. Mal wieder kein Empfang.
„Lass uns erstmal umkehren und die Straße zurück fahren. Vielleicht haben wir ja auch eine Abzweigung übersehen“.
Wir fahren exakt dieselbe Spur zurück, aus der wir gerade gekommen sind.
Doch diesmal gelingt es uns nicht, ans andere Ufer zu kommen.

 

Laut atmende Vögel an den Ufern des Okavango

„Fuck it!“ flucht Jörn, als uns klar wird, dass wir uns festgefahren haben.
Das Wasser ist wadenhoch und wir haben ordentlich Schräglage. Wenn ich jetzt aus der Beifahrertüre aussteige, läuft auf jeden Fall Wasser in den Innenraum.
Jörns Fahrerseite blickt gen Himmel, also steigt er aus und… platsch!

Ab sofort arbeitet mein Mann für zweieinhalb Stunden daran, unsere Reifen und Achse von Schlick und Schlamm zu befreien. Im Wasser. Im Wasser, in dem Krokodile leben.
Und Schlangen.
Der Ort, an dem ich Hippos höre (das Nilpferd ist für die meisten Todesfälle durch Tierangriffe in Afrika verantwortlich).
In ausreichend weiter Entfernung sehe ich einen Elefanten.
Im Gebüsch neben uns atmet irgendjemand laut aus.
„Das ist bloß ein Vogel!“ keucht Jörn.

Ein laut atmender Vogel? Hat Jörn einen Sonnenstich? Ich wiederspreche ihm nicht, jetzt ist nicht der Zeitpunkt für Diskussionen. Trotzdem beobachte ich jedes wackelnde Blatt und jede Blubberblase mit Argusaugen.
Ich habe das Bild heraufschnellender Krokodilköpfe nicht vergessen. Auch nicht, dass eines der Tiere einen ausgewachsenen Irischen Wolfshund vor den Augen seiner Besitzerin gefressen hat. Mit einem Happs.
Die Geier kreisen über uns und wir machen noch ein paar Scherze, weil wir glauben, dass wir gleich weiterfahren können.
Ein paar Vögel beobachten uns neugierig und ich wüsste zu gern, was sie über uns denken.

Während Jörn an Reifen und Achse sein Bestes gibt, halte ich Ausschau nach Getier

Als die Sonne noch eine Stunde am Himmel steht, beginne ich, Jörns dreckig-nasse Arbeit mit dem internationalen Notsignal zu begleiten: Ich hupe SOS.
Etwas widerwillig, aber wir haben keine andere Wahl.
Sobald man sich tatsächlich in einer Situation befindet, in der man dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz hupen (oder mit der Taschenlampe in die Nacht blinken muss), wird einem die Dramatik des Moments noch viel mehr bewusst.

 

Schließlich wird uns klar, dass uns weder jemand hören – noch uns helfen kann

Im Notfall in der Wildnis: Verlasse niemals dein Auto.
Also richten wir uns für die Nacht ein. Jörn watet zum Kofferraum und reicht mir durchs Fenster zwei Wasserkanister und Brot. Kramt nach unseren Schlafsäcken im Dachzelt. Durchwühlt die Rucksäcke nach Pullovern und trockenen Socken, bevor er seine durchweichten Schuhe auf das Autodach stellt. So weit oben kommt da keine Hyäne dran. Die fressen gerne mal Lederschuhe.

Wir beschließen, auf den Vordersitzen zu schlafen. Unser Auto liegt so schräg, dass ich auf der Beifahrerseite direkten Blick auf das Wasser habe. Um 19 Uhr ist es stockdunkel, wenig später geht der Mond auf. Die Situation ist dramatisch. Ich will hier nicht sein. Mir ist klar, dass ich die Nacht in diesem Fluss verbringen muss und nicht weiß, ob uns morgen jemand finden wird. Wir sind nicht in einem Nationalpark. Kein Parkwächter hat unsere Daten. Natürlich haben wir keinen Handy-Empfang und ich schwöre mir selbst, dass ich nie wieder ohne Satellitentelefon in die Wildnis fahre.

Wir gehen die Vorräte durch. Wir haben Wasser für insgesamt 3 Tage, wenn wir so viel trinken, dass wir nicht dehydrieren.
Tagsüber ist es heiß im Delta. Ich habe seit unserer Panne nichts mehr getrunken. Tja, und wo im Körper Wasser an der einen Stelle rein geht, will an anderer Stelle Wasser auch wieder raus…

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus.
„Jörn?“ flüstere ich.
Wir flüstern hier andauernd, seit die Sonne weg ist.
„Ja?“ flüstert er zurück.
„Ich muss Pippi.“

Jetzt beginnt der Teil, über den ich noch nie irgendwo etwas gelesen habe:

Was macht eine Frau in einem absaufenden Auto im Okavango Delta bei Nacht, wenn sie Pippi muss?

Hier kommt die Antwort:

Erstmal freundest du dich mit dem Gedanken an, dass Privatheit an dieser Stelle Fehlplatziert ist. Mit dieser Tatsache konfrontiert, hast du zwei Alternativen:

1.       Mit dem nackten Hintern aus dem Fenster. Nachteil: In Afrika ist das in vielen Regionen ein recht gewagter Move Nackte Haut bedeutet Angriffsfläche für Anopheles Mücke (Malaria) und Tse-Tse Fliege (Schlafkrankheit). Außerdem habe ich gesehen, wie beeindruckend hoch Krokodile aus dem Wasser schießen können. Selbst in flachen Regionen wie hier gleiten sie durchaus ungesehen durch die Fluten.

2.       Eine leere Tasse oder eine leere Flasche. Wenig Risiko, gefressen oder gestochen zu werden. Nachteil: Du erledigst dein Geschäft im Auto. Dort, wo im Zweifel andere Menschen mit dir festsitzen.

Ich entscheide mich relativ schnell für Alternative zwei. So etwas muss eine Ehe auch mal aushalten, denke ich.

Jörn reicht mir verständnisvoll einen unserer zwei Becher.

Jede Frau, die schon mal beim Frauenarzt war, weiß, wie man in einen Becher zielt. Auch ich traue mir das zu, aber…
„Jörn. Ich glaube, dass das Volumen nicht ausreicht!“ flüstere ich mit Nachdruck und stelle den Becher zwischen uns ab.
Kurze Stille.
„Dann pinkle halt auf zwei Mal“, flüstert er zurück.
Mein großartiger, verständnisvoller Mann.
„Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass ich bei dem Druck zwischendurch anhalten kann“, flüstere ich wiederum und wäre die Situation nicht so ernst, würde ich in Lachen ausbrechen.
Wir überlegen beide kurz.
„Die rote Thermoflasche?“ fragt Jörn flüsternd.
Ich nicke ergeben im Dunklen.
Jörn reicht mir die Thermoflasche, die 1 Liter Fassungsvermögen hat. Wir sind beide zuversichtlich, dass das ausreicht.
Nun…

 

Wie man im Notfall in eine Flasche pinkelt und in einem Flussbett schläft

Ich klettere also auf den Rücksitz und Jörn schaltet die Lüftung des Autos an, damit ich wenigstens ein kleines Gefühl von Diskretion bekomme, während sie lautstark arbeitet und er ein Lied singt.
0,75 Liter später lasse ich mich erleichtert neben ihn zurück plumpsen. Die Tat ist vollbracht. Von der roten Thermoflasche haben wir nach unserer Reise nie wieder etwas gehört oder gesehen.

Es wird zwar kalt, aber wir haben schlimmeres befürchtet. Unsere Schlafsäcke reichen aus, um uns warm zu halten. Die Feuchtigkeit dringt zwar unaufhörlich ins Auto und unsere Kleidung ist schnell klamm, dennoch schaffen wir es irgendwie, müde zu werden. Wahrscheinlich hilft die Tatsache, dass wir beide wissen, dass es morgen und schlimmstenfalls übermorgen darauf ankommt, fit zu sein. Ein müder, von Schlafmangel geschwächter Körper ist nicht leistungsfähig. Dieser Gedanke alleine beunruhigt mich dermaßen, dass ich es schaffe, mich zum Einschlafen zu zwingen. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas überhaupt geht!

Um kurz vor 21 Uhr blicke ich zum letzten Mal auf die Uhr und wache zwei Stunden später wieder auf. Jörn ist ebenfalls eingeschlafen. Ich blicke durch meine Fensterseite auf den Fluss, dem ich so unfreiwillig nahe gekommen bin. Auf seiner glatten Oberfläche spiegelt sich der Mond. Durch die Frontscheibe kann ich das überwältigend funkelnde Sternenzelt sehen, während die Zikaden ihre Instrumente spielen. Zwischendurch lausche ich den Schritten des Hippos neben uns, das mampfend durchs Wasser tapert. Hin und wieder gibt es einen dieser typischen, grunzenden Laute von sich, die mich seit Wochen auf unserer Reise begleiten. Irgendwo trötet ein Elefant, vielleicht sind es auch zwei. Diesmal hoffe ich, dass ich kein Löwenbrüllen höre. Ich will auch kein Hyänengelächter vernehmen.

Während ich in den glitzernden Mantel der Nacht blicke wird mir bewusst, dass ich für morgen keine Überlebensgarantie habe

Mittlerweile glauben Jörn und ich, dass auf dieser „Straße“ niemand lang fahren wird.
Mit einem Mal wird mir endgültig klar, dass wir keine guten Karten haben:

1.       Aus der Richtung, aus der wir kommen, sind es über 50 Kilometer Schotter- und Sandpiste bis zum nächsten Dorf. Das Gebiet führt mitten durch die Wildnis. Leider zu Fuß schwer zu bewältigen– doch zumindest auf dem Trockenen.

2.       Die andere Richtung führt durch den Fluss – aber es sind nur 400 Meter laut GPS bis zu einer Straße, von der Jörn und ich vermuten, dass es eine Umleitungsstrecke ist.

Wir haben die Wahl zwischen Pest und Cholera:

50 Kilometer auf trockener Sand- und Schotterpiste inklusive Elefant, Löwe und Co. mit der Hoffnung, dass möglichst bald ein Auto auf dieser Straße fährt?

Oder 400 Meter durch das Wasser des Okavango auf eine Straße hin zuwaten, von der wir wissen, dass dort definitiv Autos vorbei kommen – denn wir haben sie tagsüber gehört!

Die Sprache der Sterne bei Nacht

Etwas funkelt und tanzt über mir, sodass meine Gedanken dorthin gleiten. Das Sternenzelt der Unendlichkeit ist unendlich schön. Kein elektrisches Licht irgendeiner Zivilisation stört das Flimmern und Flackern der Himmelskörper, von denen einer jetzt meine volle Aufmerksamkeit hat. Zuerst glaube ich, mich zu irren, weil ich gerade erst wach geworden bin. Also spritze ich mir ein bisschen Wasser ins Gesicht. Gucke wieder hin, aber er tanzt immer noch. Von oben nach unten, von links nach rechts, dann im Kreis.

Als nächstes glaube ich an Dehydrierung. Deshalb trinke ich die Flasche Wasser leer und gucke eine Weile woandershin. Ich hab ja meine rote Thermoflasche.
Dann traue ich mich wieder.
Der Stern tanzt immer noch. Alle anderen tun nichts, außer das, was Sterne normalerweise tun. Sie  bleiben artig an Ort und Stelle und zwar so, wie das menschliche Auge das gewohnt ist. Aber der, von dem ich hier schreibe, der hält sich nicht daran. Der tanzt, als ob er mir zuwinken wollte. Oder zuzwinkern. Oder mir den Vogel zeigen?
Wie auch immer. Ich glaube als nächstes, dass es ein Satellit ist. Diese Idee habe ich von Jörn und ich finde in diesem Augenblick, dass sie wunderbar rational klingt.

„Sabrina? Bist du wach?“ flüstert Jörn.
„Ja!“ flüstere ich zurück und nehme seine Hand. Diese Hand, die ich vielleicht nie wieder halten kann, wenn das hier schlecht ausgeht.
Ich verschweige ihm, dass ich glaube, dass unser Auto immer mehr auf die Seite sinkt. Wenn Wasser in den Innenraum eintritt, sind wir noch mehr am Arsch.
„Glaubst du, man kann einen Deal mit dem Leben machen?“ fragt Jörn mich jetzt.

Kann man mit dem Leben einen Deal machen? Lies nächste Woche, wie es weiter ging!

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