Es ist Januar 2019. Über Barcelonas Tibidabo steigt gerade die Sonne auf. In Gràcia haben wir uns einquartiert in Anita´s B&B und blicken von dort aus über die katalanische Hauptstadt hinweg auf´s Meer. Vielleicht bilde ich es mir ein, doch für einen Moment glaube ich, zwischen Pinienduft und frisch gebrühtem Kaffee einen Hauch Ozean zu schmecken. Ist das der Beginn vom Auswandern nach Spanien?

Wir ziehen an diesem sonnigen Januartag 2019 unsere Laufklamotten an und rennen. Jörn und ich, jeder in seinem Tempo. Diesmal: einer Zukunft in einem fremden Land entgegen.

Gemessen mit Afrika und den Erlebnissen mit Flora und Fauna dort… wirkt Spanien herzerwärmend vertraut. Wir machen irgendwann, irgendwo auf dem Tibidabo Pause. Von hier oben hat man einen atemberaubenden Blick über Barcelona.

„Was meinst du?“ fragt Jörn, als sich unsere Atem beruhigt haben.
Ich weiß es im ersten Moment nicht.
Auch nicht im zweiten.
Scheiße. Ich weiß es auch nicht so recht im dritten Moment.

Vielleicht doch eine doofe Idee?

Mein Blick schweift von links nach rechts über die Häuser dieser großen, alten Stadt vor dem Meer. Es liegt etwas im Herzen Barcelonas, das ich noch nicht greifen kann. Was ich gerade weiß ist, dass ich es kennen lernen mag. Das Puzzlestück zu einem Teil von mir liegt irgendwo dort unten. Ich hab es mir nicht bewusst ausgesucht. Barcelona tauchte bis hierhin nicht auf meiner Bucket List auf. Ich bin einfach hier gelandet. In wenigen Wochen… lebe ich hier? Gemeinsam mit meinem Mann und meinem Hund?

„Keine Ahnung“, denke ich.
„Es liegt eine Schönheit vor uns, daran habe ich keinen Zweifel. Was ich hier soll? Keinen Plan“, sage ich laut.
Ich merke, wie sich Jörn neben mir anspannt. Diese Reaktion wollte er nicht, das weiß ich. Trotzdem ist es meine Wahrheit und er hat verdient, sie zu hören.

„Das ist meine Konsequenz der gelebten Hingabe an das Leben selbst.“

Im Fluss sein…ist halt auch mal anstrengend

Mal ruhig plätschernd, mal im reißenden Fluss des Lebens, treiben wir Menschen öfters einfach so dahin. Völlig ohne Kontrolle über das, was geschieht. Ohne das Ziel zu kennen. Mal reißt es uns hierhin, mal dorthin. Chaosartig. Der stete Begleiter: Das Gefühl der Machtlosigkeit. Das Gefühl, dass jedwede eigene Kraft niemals ausreichen wird, um sich aus dieser Lage zu befreien.

Im Sog des Flusses gibt es nur eine Tat, die uns weiterbringt und Hilflosigkeit ersetzt durch Erlösung: Hingabe. Du wirst selbst der Fluss. Teil des Wassers. Teil des Lebens.

Das braucht so viel Mut! Ich habe regelmäßig die Hosen voll vom Leben. Ernsthaft. Ich springe nicht mit abenteuerlustigem Wahnsinn in den Augen in afrikanische Geländewagen ohne Handyempfang. Oder übernachte in Australien völlig cool in spinnenverseuchten, verschrotteten Campern im Outback oder hänge easy ab in Blechhütten zwischen Pferdemist. Pfeife auf meinen akademischen Abschluss und werde Hundetrainerin.

Oder sage seelenruhig Goodbye Deutschland! und wandere aus.

Nee.

Die meisten wichtigen Dinge in meinem Leben habe ich mit tierischer Angst getan. Ich weiß, dass mutig sein immer bedeutet, eine Angst zu überwinden.

Mit dem eigenen Leben zusammenwachsen

Danach passiert Wachstum. Ein ganz persönlicher. Ein Wachstum von der Sorte, das zeigt, was lebendig sein bedeutet. Was es heißt, ein Mensch zu sein. Was es bedeutet, du selbst zu sein. Der Sinn deines Lebens.

Als Menschen sind wir nicht dafür gemacht, uns dem Leben entgegen zu stellen. Wir sind dafür da, das Leben in uns aufzunehmen. Platz zu machen für etwas, das wohlwollend für uns, in uns und mit uns wirken mag. Es gibt eine liebevolle Absicht dort draußen, irgendwo zwischen oben und unten, in der Mitte von etwas, dessen unvorstellbare Grenzenlosigkeit noch nicht einmal einen Namen trägt.

Wo all diese Menschen auf dieser Erde nach dem suchen, was ihren Sinn ausmacht und die eigene Existenz rechtfertigt, liegt auch eine Antwort. Sie ist im Meer des Lebens zu finden. Wer sich dem (Lebens-)Fluss hingegeben hat, wird dorthin kommen, wo die Kräfte des Lebens zuhause sind. Wer freiwillig dorthin geht, wird etwas Wundersames entdecken. Wer sich gezwungen fühlt, wird glauben, zu ertrinken.

Hingabe an das Leben kommt immer in Begleitung von Liebe und Vertrauen. Wir vertrauen auf das, was das Leben für uns bereit hält und lieben es bedingungslos. Wer kann vom Großen Ganzen aus betrachtet schon sagen, was richtig oder falsch ist? Es liegt von dort aus gesehen nicht an uns Menschen zu bewerten, ob die übergeordneten Dinge ihre Richtigkeit haben oder nicht. Es bleibt uns lediglich die Entscheidung darüber, wie wir selbst sein wollen. Wie wir uns fühlen wollen.

Die höchste aller Gefühlskünste im Leben

Menschen wollen etwas spüren. Etwas fühlen. Am liebsten die „guten“ Gefühle. Doch so einfach ist das nicht: Wer im Glück taumeln will, der muss auch den Schmerz aushalten können, der dem Glück wie gegenüber steht. Wir pendeln immer in die eine Richtung – und dann in die andere. Die gute Nachricht: wir können lernen, länger im Glücksgefühl zu bleiben und nur kurz (voll und ganz!) in den Schmerz zu gehen.

ES GIBT KEINE NATÜRLICHE ALTERNATIVE!

Du wirst belogen, wenn dir jemand erzählt, das Leben sei leicht. Es ist nicht immer leicht. Es ist AUCH sackschwer und scheiße schwierig und zum kotzen mies zwischendurch. Das schwierigste Gefühl dabei ist dieses hier:

Stille.

Das aktive Aufsuchen derselben und sie auszuhalten, ist schwer. Der inneren Stimme zuzuhören, die spricht, wenn es still ruhig um dich herum ist – eine fiese Übung an manchen Tagen! Wenn keine äußere Ablenkung da ist und du nach innen hörst, ganz in Ruhe. Dann kannst du sie hören.

Tausend Sätze in deinem Kopf, die dir erzählen, wie schlecht du bist. Wie sehr du versagst und ein Leben lebst, das nicht zu dir passt. Wie gut die anderen Menschen alles schaffen – und wie schwer du dich damit tust. Du hörst dir selbst dabei zu, wie du anderen die Pest an den Hals wünschst und beweist dir selbst, welch schlechter Mensch du tatsächlich bist. Du hörst, dass du deine Kinder liebst und trotzdem der Arbeit den Vorzug gibst. Du erzählst minutenlang, wie ungerecht dein Partner zu dir ist und wie du es heimzahlen kannst – obwohl du ihn/sie doch liebst.

Du hörst deinen eigenen, inneren Missklang. Eine ohrenbetäubende Kakophonie über dein Leben. Komponiert und geschrieben von dir selbst.

Willkommen im Kreis der Menschlichkeit!

Es ist normal. Völlig, völlig normal. Alle Menschen hören dieses dunkle Orchester zwischendurch.

Was nicht okay ist: Diesen Prozess zu betäuben, der in der Stille entsteht.

Mit Alkohol, Drogen, Zuckerschock, Netflixmarathon. Sogar so Dinge wie „Hausanbau – dauert schön lange und rechtfertigt stetiges Abgelenktsein“ oder „Wir kriegen eben noch ein Kind, dann haben wir immer schön zu tun“ zählen bei manchen Menschen dazu.

Deine innere Stimme hörst du nur beim nach Innenkehren in Stille. Hör zu! DU hast deine Wegbeschreibung in dir. Stille sagt dir, wo du hinhören und hinschauen sollst in deinem Leben. Es tut oft weh. Es macht oft Angst. Es braucht immer Mut, sich dieser Angst entgegen zu stellen. Immer. Es ist für jeden Menschen schwierig. Du bist damit nicht allein, es geht uns allen so.

Wer einen Berg erklimmen will, um die gute Aussicht zu genießen, muss über Steine wandern.

Absolute Ruhe wird getragen von Stille

Nun weißt du es: Die höchste Form aller Gefühle ist das Erzeugen und Aushalten der absoluten Ruhe, die immer mit Stille einhergeht. Eine, die das komplette Repertoire einer menschlichen Gefühlswelt kennt, die alles in sich trägt – und deshalb dort angekommen ist, wo sie sich für sich selbst entscheiden kann. Weil alles getan, integriert und erlebt ist. Dann ist es absolut still.

Wenn das passiert, kann ein Mensch Platz machen für etwas, das größer ist, als er selbst.

Dann gibt es keine reißenden Flüsse mehr, sondern kraftvolle Augenblicke voller Erfüllung. Dann bedeutet die Ankunft im Meer des Lebens kein Ertrinken, sondern nach Hause kommen und Teilwerden. So müssen wir gar nichts mehr. Nicht einmal entscheiden, welche Welle wir surfen, weil wir selbst zur Welle geworden sind.

Die Abwesenheit von eigenen Wünschen, die Aufgabe von Habenwollen und die Bereitschaft, den Anderen sein zu lassen, liegen auf dem Weg zum Meer. Wer in den Fluss dorthin freiwillig eintaucht, findet an jedem Ufer einen Ort der Erholung, der diese Qualitäten bereithält.

Die gute Nachricht: Alle Flüsse auf diesem Planeten landen irgendwann im Meer. Außer der Okavango…

Gehen wir davon aus, dass Dein Lebensfluss keinen „Okavango“ macht und du deshalb eine Schleife drehst – lies dazu gerne, was meine Erfahrung dazu war. Du solltest das auf keinen Fall nachmachen!

Es gibt einen höheren Rahmen für jeden von uns. Es spielt keine Rolle, ob uns das gefällt oder ob wir diese Anschauung für passend oder wahr halten. Dieser höhere Rahmen existiert unabhängig von einer menschlichen Meinung oder einem menschengemachten Urteil darüber. Diese Existenz ist auch nicht angewiesen auf den Glauben eines oder vieler Menschen. Wie befreiend!

Zurück in Barcelona

Mein Körper steht immer noch auf einem Berg. Ich spüre seine Präsenz unter meinen Füßen, während ich noch eine Weile auf Barcelona Stadt blicke. Ich kenne ihre Straßen nicht. Habe keine Ahnung, wo ihre schönsten Flecken sind und welche Stellen ich meiden sollte. Kenne nicht einen Menschen dort unten. Spreche kaum ein Wort der Sprache. Mein Spanisch ist grottenschlecht, von meinem Katalan ganz zu schweigen.

Nicht nur mein Körper steht auf einem Berg. Mein Inneres genauso. Es weht ein laues Lüftchen hier oben, in mir drinnen. Ich weiß, dass Anhalten Stagnation bedeutet. Angststarre, wenn ich ehrlich bin. Ich weiß, dass Umkehren bedeutet, den Berg herabzusteigen, den ich so viele Jahre erklommen habe. Ich würde mein Leben verraten – und das ist keine Option für mich. Ich liebe mein Leben und weil es mich auch liebt, nehme ich an diesem Tag Anlauf und springe ins Unbekannte. Freiwillig. Im Glauben daran, dass mich etwas trägt, das größer und mächtiger ist, als ich selbst. Auch, oder gerade dann, wenn ich selbst nicht daran glaube.

Ich spüre meine Füße, blicke auf die Laufschuhe und drehe schließlich meinen Körper im Außen zu Jörn. Beobachte ihn. Ich kenne meinen Mann. Ich sehe in diesem Augenblick alles, was ich brauche, um eine Entscheidung zu treffen: Das hier wird ein Tandem-Sprung! Und dieser Mann weiß, wie fliegen geht. Manchmal sogar für uns beide zusammen.

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Addendum in June 2019: Half a year later Oliver allows me access to his dream world and there lends me his parachute for a moment. Today I know that life already carries us even before we dare to step into the new, leaving a mountain behind. We just have to learn to feel that we are already carried before we fall. The free fall without support then no longer exists. Thank you for providing the platform of this experience, Paola Molinari and Liane Zink.

Photo by Biel Morro on Unsplash

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