After-Work-Schnitzen: Wie man mit einem Stück Holz und einem Hammer innere Ruhe findet
Eine gibt eine besondere Art der Stressbewältigung, die sich mit Meditation, Sport und Loslassen belastender Gedanken paart.
Die Rede ist von Schnitzen. Ja, richtig gelesen. Schnitzen. Das Schnitzen erfüllt gleich mehrere Zwecke gleichzeitig:
I. Gründe für das Schnitzen statt After-Work-Party
A. After-Work-Schnitzen: Weil Netflix und Chill einfach zu Mainstream geworden sind.
B. Wer braucht Yoga, wenn man Meditation und Sport durch Schnitzen in einem hat?
Wir wollten mal etwas anderes probieren. Janine, Laura und ich probierten eine Methode der Stressbewältigung, Achtsamkeitsübung und Workout nach Feierabend aus. Was dabei heraus kam, außer echt üblem Muskelkater, lernst Du in diesem Beitrag. Solltest Du es auch tun? Ich sage: Ja! Aber mach deine Oberarme auf etwas gefasst.
1. Du entscheidest, was du schnitzen willst. Ein Einhorn? Ein Drache? Oder vielleicht eine Miniaturausgabe deines Chefs?
Als erstes bestimmst du, was aus dem Baumstamm überhaupt werden soll. Anders als in deinem Leben, steht hier jemand neben dir (Kursleiter:in), die dir sagt, was für Anfänger geeignet ist und was nicht. Meine Freundin Laura beschließt, eine Eule zu erschaffen und Janine mag ein Herz samt Unendlichkeitssymbol hervorzaubern – während ich eine Weltkugel aus meinem Stamm werkeln will. Wir haben klar im Kopf, was wir wollen und wenig bis keine Ahnung, wie wir dorthin kommen sollen. Dieser Zustand kommt uns bekannt vor. Cheers! Auf’s Leben und seine Wege, uns Herausforderungen zu schicken.
2. Aggression und Angst abbauen: Einfach mal drauf hauen auf das, was im Weg steht
Schnitzen ist wie das Leben: Manchmal hackt man drauf los und hofft auf das Beste. Du stellst dir den Kopf eines Menschen vor, den du so richtig gerne mal Ohrfeigen würdest. Machst du natürlich nicht im echten Leben, aber erzähl mir nix: Du hast zwischendurch solche Gedanken. Nicht oft. Ich weiß. Weil man in sich drinnen nix anstauen soll, auch keine negativen Gefühle, soll man sie ausagieren – aber so, dass man niemandem schadet. Schnitzen hilft da. Alternativ kann dein Baumstamm auch für eine Eigenschaft stehen, die du an dir selbst total ätzend findest. Dazu reicht dir der Fachmann oder die Fachfrau ein Stück Baumstamm (Linde lässt sich besonders gut bearbeiten) sowie einen richtig schweren Hammer plus Schnitzer. Und dann rammst du volle Möhre deinen Schnitzer in den Baumstamm. Immer und immer wieder, bis du nicht mehr kannst. Dabei hilft ein Mantra. Die No-Lady-Like Variante: „Verzieh dich aus meinem Leben, verzieh dich aus meinem Leben…“ oder, netter ausgedrückt: „Mit jedem Schlag befreie ich mich von diesem Ballast, mit jedem Schlag befreie ich mich von diesem Ballast…“.
Also: Stell dir vor, dein Holz ist diese nervige Person aus der Arbeit. Welches Gefühl ist das? Neid? Scham? Missgunst? Jetzt schlag drauf! Auf das Gefühl. Nicht auf die Person, die das Gefühl auslöst. Dich nervt das Gefühl, nicht die Person. Denk dran. Gewaltphantasien kann man annehmen und lenken, dorthin, wo es passt. Zum Beispiel zum Schnitzen. Visualisiere, wie du mit jedem Schlag deinen Stress in Sägespäne verwandelst.
3. Frustration gegen Akzeptanz austauschen: Es läuft nicht immer nach Plan
Du hast gerade eine Nase in dein Holz geschnitzt, wo eigentlich ein Ohr sein sollte? Kein Problem, das ist jetzt eben ein Picasso! Wir kloppen stundenlang an zwei ganzen Tagen wie die Bekloppten auf unsere Baumstämme ein. Egal wo ich hinblicke, ich erkenne nichts von dem, was wir erschaffen wollen. Lauras Eule sieht aus wie ein Hinkelstein, Janines Herz gleicht einer unförmigen Wolke und meine Weltkugel imitiert den Uluru/Ayers Rock in Australien. Wir fluchen, dann freuen wir uns, trösten einander, werden wieder sauer und fluchen, dann freuen wir uns… Es ist ein stetes Wechselbad der Gefühle mit Aufs und Abs. Wie im richtigen Leben. Dabei sind wir nicht allein. Unser Nachbar macht dasselbe durch. Jeder von uns hämmert wie irre, gibt schließlich auf, macht dann trotzdem weiter und findet jemanden, dem es genauso geht. Akzeptiere die Unvollkommenheiten. Dein Schnitzwerk ist wie du: Einzigartig und ein bisschen schräg.
4. Selbstvertrauen aufbauen: Wissen und spüren, dass es gut sein wird
Wenn dein Schnitzwerk endlich Form annimmt, fühlst du dich wie Michelangelo. Nur ohne die Deckenmalerei. Es dauert ungefähr 12 Stunden, bis wir erkennen, dass unser Werk gut ist. Laura steht vor Eule „Ursula“ und sie sieht tatsächlich aus wie eine richtige Eule. Ihren Silberblick hat sie abgelegt und ihr krankes-Huhn-Outfit gegen Eulenkostüm getauscht. Jetzt thront sie stattlich auf ihrem Baumstamm. Janines „Herz mit Unendlichkeit“ strahlt mit voller Kraft und zeigt das, was es ist. Und meine Weltkugel? Die fühlt sich rund an. Die Mühe hat sich gelohnt, nicht nur, weil wir unser Ziel erreicht haben. Der Weg dahin war das Faszinierende, denn neben körperlicher Ausgeglichenheit ist auch unser Kopf angenehm leer und leicht. Denke daran: Selbstvertrauen ist wie ein stumpfes Messer. Man muss es immer wieder schärfen.
5. Hackschnitzel wegräumen: Die Überreste beseitigen und Wunden heilen
Nach dem Schnitzen ist vor dem Aufräumen. Aber hey, zumindest hast du jetzt genug Sägespäne für ein Hamstergehege! Um uns herum liegen Hackschnitzelberge. Laura klebt noch ein Pflaster auf ihre Finger und ich creme meine abgeschmirgelten Hände ein. Lediglich Janine hat es geschafft, ohne Verletzungen aus der Nummer raus zu kommen, zumindest behauptet sie das. Ich meine, einen leichten Hinkebein-Gang bei ihr zu beobachten, als wir uns glücklich verabschieden. Wir haben es geschafft! Was zu Beginn ein unförmiges Stück Holz war (Dein Leben) ist nun ein persönliches Meisterwerk (Eule, Herz und Welt) – es liegt eben im Auge des Betrachters, für welche Sicht er sich entscheidet. Betrachte deine fertigen Schnitzereien. Sie sind das perfekte Symbol für… naja, für was auch immer du willst!
Dein Baumstamm ist quasi Dein momentaner Zustand. Das, was aus Dir heraus nach außen will und etwas zu sagen hat, wird im Baumstamm aka Deiner fertigen Skulptur sichtbar.
Hast Du das gewusst…?
…über das Herz:
Das Herz steht in unterschiedlichen Kulturen für den Ort der Intuition und Weisheit. Es ist auch der Ort der Liebe. Zusammen mit dem Gehirn bildet es das Gleichgewicht der Gedanken. Das Herz steht für das Zentrum allen Seins und das Tun im Nichtstun. Es symbolisiert die Mitte zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein, es erkennt die fließenden Übergänge zwischen beiden und ist die erste Instanz, die den Wandel im Leben erspüren lässt.
…über die Unendlichkeit / liegende Acht:
Das Symbol der Unendlichkeit oder liegenden Acht steht für Beständigkeit und Logik im Paradoxon. Es verdeutlicht das Spiel der kosmischen Kräfte und die ewige Seele, die darin ihre Ruhe findet. Das Unendlichkeitssymbol bedeutet außerdem Liebe, Freundschaft, Rettung und Reinigung.
…über die Weltkugel:
Ein Symbol universeller Hoffnung und Bestrebung, Welterkenntnis und Bildung. Die Weltkugel steht auch für Macht, Sieg und Patriotismus. In Märchen stehen Kugeln jeweils für Aspekte des eigenen Selbst. In der Antike stand die Kugel, als vollkommenste aller Formen geltend, für ein Abbild der Seele. Die Kugel gilt außerdem als Symbol für Vollständigkeit und Ganzheit. Sie steht außerdem für die Gesamtheit dessen, was alle Gegensätze aufhebt. So kann die Kugel auch für das Streben der Psyche gesehen werden, die Gegensätze im Leben zu vereinen um Gleichgewicht herzustellen.
… über die Eule:
Die symbolische Bedeutung von Eulen ist faszinierend. Einerseits gelten Eulen in den unterschiedlichsten Kulturen als Symbol der Weisheit und des Guten. Andererseits gelten sie als Unglücksbote und Sinnbild des Bösen. Sie ist Beschützerin und Begleiterin, sogar über den Tod hinaus, wenn sie die Seele des Menschen ins Jenseits begleitet. Indianerstämme sehen in ihr ein Krafttier, das für einen Menschen steht, der gerne anderen Menschen hilft und dabei im Zweifel auch seine Gesundheit vernachlässigt.
II. Fazit und Blick hinter die Kulisse zum Schluss:
Auf dem Nachhauseweg erzählt Laura von der Bedeutung der Pflanze „Thymian“. Im Mittelalter steckten die Frauen ihren Rittern einen Thymianzweig in die Rüstung, denn er steht für Schutz und Mut während einer Schlacht. Als ich an diesem Abend ins Bett gehe, blinkt mein Handy: Laura hat mir ein Bild von einem Thymian geschickt. Ich will nicht behaupten, dass das Leben aus Schlachten besteht. Es besteht AUCH aus Kriegen, Kämpfen, Angriff und Verteidigung. Doch was macht das schon, wenn Du Menschen in Deinem Leben hast, die wissen, wann Du dringend einen Schnitzkurs brauchst oder Thymianzweige?
Mach’s einfach:
After-Work-Schnitzen: Weil innere Ruhe manchmal nur einen Hammer entfernt ist. Und wenn alles andere fehlschlägt, hast du zumindest genug Brennholz für den Winter.
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